Medizin:Dr. Data

Medizin: Mehr Daten, das bedeutet weder mehr Informationen noch mehr Erkenntnisse.
Illustration: Stefan Dimitrov

Mehr Daten, das bedeutet weder mehr Informationen noch mehr Erkenntnisse.

Illustration: Stefan Dimitrov

Die Digitalisierung in der Medizin soll den Fortschritt in der Heilkunde beschleunigen und Patienten bessere Behandlungen ermöglichen. Bisher bleiben jedoch Erfolge aus, Pannen häufen sich.

Von Werner Bartens

Die 48-Jährige hatte die Reisetasche unter dem Arm, zwei Tage würde sie in der Klinik bleiben müssen. Ihre Leberwerte waren erhöht, im Kernspin zeigte sich die Organstruktur dichter als üblich. Nichts Dramatisches, eine Gewebeentnahme sollte Klarheit bringen. In der Klinik wurde die Patientin freundlich begrüßt, gleich konnte es losgehen. "Ich habe die Blutverdünner heute abgesetzt, das war doch in Ordnung?", sagte sie zur Ärztin. Die fiel aus allen Wolken, besprach sich mit dem Oberarzt, dann wurde die Untersuchung abgeblasen. "Geht gar nicht", herrschte sie der Doktor an. "Den Eingriff führen wir nicht durch, das Blutungsrisiko wäre zu hoch." Moment mal, wurde sie etwa angepflaumt, weil sie das Mittel erst am selben Tag abgesetzt hatte - wo ihr in derselben Uniklinik, 100 Meter entfernt, vier Monate zuvor der Blutverdünner verordnet worden war?

Ein Arzt weiß nicht, was der andere verschrieben hat. Eine Abteilung erfährt nichts von der benachbarten. Informationen über Patienten von einer Klinik zur anderen zu schicken oder - verrückte Idee - vom Hausarzt in die Klinik, hat manchmal ähnliche Erfolgsaussichten wie eine Flaschenpost im Bermuda-Dreieck. Was, wenn ein tüdeliger Rentner die Ärzte vor der Gewebeentnahme nicht auf die Blutverdünner hingewiesen hätte?

Jeder kennt ähnliche Geschichten aus der Medizin: Verlorene Röntgenbilder, verschwundene Arztbriefe, nicht aufzufindende CT-Befunde. Und dann das Papier-Mikado in der Klinik, wenn Patientenakten neben Konsilberichten ausgebreitet werden oder sich Nacht- und Tagesschicht streiten, warum in der Kurve nicht vermerkt ist, dass Herr Schneider, 91, "keine Reanimation" wollte - gegen Mitternacht aber trotzdem die Wiederbelebungseinheit mit vollem Besteck angerückt ist.

Manche halten das Smartphone des Patienten für das Stethoskop des 21. Jahrhunderts

Angesichts dieses heillosen Durcheinanders ist es erstaunlich, dass die Medizin gerade in euphorisch die Rettung durch Big Data ersehnt. Die Heilkunde gibt sich dem Datenrausch hin und erwartet genauere Diagnosen und bessere Therapien. "Wenn Patientendaten einheitlich gesichert werden und der Datenschutz gewährleistet bleibt, ist das nur zu begrüßen", sagt Gerd Antes, Mathematiker und Vorstand der Cochrane-Stiftung in Freiburg, die führend in der Bewertung medizinischer Therapien und Untersuchungen ist. "Für die optimale Behandlung der Patienten gilt hingegen: Big Data - Big Error. Mehr Daten sind nicht unbedingt besser, sondern können in die Irre führen. Mich ärgert die unbewiesene Behauptung, dass Big Data unser Leben verbessert."

Der Begeisterung für das große Wühlen im Datenstrom tut derlei Kritik keinen Abbruch. Bücher wie "Big Data" von Kenneth Cukier und Viktor Mayer-Schönberger prophezeiten schon 2013 eine "Revolution, die unser Leben verändern wird", weil "durch Recherche und Kombination in der Datenflut blitzschnell Zusammenhänge entschlüsselt" würden. Sogar vor Toten machten die Autoren nicht Halt; sie behaupteten, dass Steve Jobs nach der Krebsdiagnose "Extra-Lebensjahre gewonnen" habe, weil er "alle und nicht nur ein bisschen Daten" für genetische Analysen zur Verfügung stellte. Der Apple-Chef starb 2011 und es ist nicht belegt, dass Jobs nach der Diagnose viel Zeit geblieben wäre.

Gelingen sollen Big Data zufolge allerlei medizinische Wunderdinge und zwar mit Hilfe der "drei V" - Volume, Velocity und Variety, also der Datenmenge, der Geschwindigkeit der Verarbeitung und der Vielfalt der Daten, die im Idealfall nicht nur medizinische Befunde und Analysen umfassen, sondern auch aus sozialen Netzwerken, Blogs, Tweets, E-Mails oder den Sensoren zur Aufzeichnung von Körperfunktionen stammen.

Die IT-Branche ist in Aufbruchsstimmung, Politiker wie Ökonomen wittern die Chance, dass Deutschland endlich digital Anschluss gewinnt. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags sieht "Big Data als großes Innovationsthema der Informationstechnik". Franz Bartmann von der Bundesärztekammer hält gar "das Smartphone des Patienten für das Stethoskop des 21. Jahrhunderts". Manche Adepten von Big Data erwarten schon das Ende des wissenschaftlichen Weltbildes, weil kausale Zusammenhänge mal eben als unnötig erklärt und von der Menge statistischer Korrelationen abgelöst werden. Angesichts solcher Voraussagen sieht Gerd Antes eine "Frontstellung zwischen der alten Qualitätswelt und der neuen Datenwelt".

Mehr Daten bedeutet auch mehr falsche Daten

Der Glaube daran, dass sich jedes medizinische Problem durch mehr Daten lösen ließe, wurde zwar als "Wissenschaft im Größenwahn" (NZZ) und "leeres Versprechen" (Deutsches Ärzteblatt) bezeichnet, trotzdem vertrauen Ärzte wie Laien darauf, dass der Zugewinn an Daten "irgendwie" auch einen Zugewinn an Erkenntnis mit sich bringen wird. Harvard-Mathematiker haben diese Erwartung längst entkräftet. Und der Finanzmathematiker Nassim Taleb spricht von Big Data als "Rosinenpicken auf industriellem Niveau".

Schließlich würden durch mehr Daten auch mehr falsche Daten und statistische Störgeräusche auftauchen. "Jeder kann falsche statistische Zusammenhänge finden", sagt Taleb. "Big Data bedeutet durchaus mehr Informationen, aber eben auch mehr falsche Informationen." Mit der Zahl der Variablen steige die Anzahl der zufälligen aber dennoch statistisch signifikanten Korrelationen stärker an. In der Diagnostik drohen mehr Fehlalarme, weil falsche Signale als echt gedeutet - und Patienten in der Folge unnötig untersucht und behandelt werden. "Falsch positive Signale sind tatsächlich ein Problem", sagt Joachim Buhmann, Leiter des Instituts für Maschinen-Lernen an der ETH Zürich. "Eine Lösung wären nicht mehr, sondern weniger Variablen."

Die Folge der technisch aufgerüsteten Absicherungsmedizin ist - Verunsicherung

Ein Bild illustriert die Gefahr durch immer mehr Daten: Wird der Wasserstand im Ozean durch ständigen Zustrom erhöht, ist vor tosendem Wellengang bald weder der Schall von U-Booten noch der Gesang der Buckelwale zu hören - sondern undefinierbares Rauschen mit einer Menge Störsignale. Kritiker von Big Data verweisen deshalb gerne auf ebenso beeindruckende wie unsinnige Korrelationen: So entwickelte sich der Käsekonsum pro Kopf von 2000 bis 2010 parallel zur Anzahl der Menschen, die auf tragische Weise unter ihrer Bettdecke erstickt sind. Eine Zehn-Jahres-Korrelation besteht auch zwischen den von 1999 bis 2009 in einem Pool Ertrunkenen und der Anzahl jährlicher Filmrollen von Nicolas Cage.

ETH-Computerexperte Buhmann hält Algorithmen zwar für "trennschärfer und menschlichen Entscheidungen überlegen", konstatiert aber auch, dass "die großen Erfolge von Big Data in der Medizin noch auf sich warten lassen." Patientennahe Beispiele zeigen vor allem erkleckliche Pannen der großen Datenschau. 2008 kündigte Google an, anhand der Suchvorlieben im Netz die Entstehung von Grippewellen in Echtzeit, gleichsam vom ersten Hüsteln an, erkennen und den Verlauf vorhersagen zu können. Das renommierte Fachblatt Nature kündigte die Neuerung an, zunächst klappte es auch. 2013 wurde "Google Flu Trends" dann im engsten Kreise beerdigt, nachdem es den Höhepunkt der Grippewelle um schlanke 140 Prozent verfehlt hatte. Von "epischem Versagen" war anschließend die Rede - der Algorithmus geriet ins Schleudern, weil andere saisonal beliebte Begriffe wie "High School Basketball" ebenfalls in die Suchanalyse einbezogen wurden. Auch das Dutzende Millionen Dollar teure Programm Watson von IBM wurde von großen Krebskliniken wieder gekündigt, weil der Doktor aus Fleisch und Blut zuverlässiger arbeitete.

Nun mögen Computer besser auffällige Zellen in Gewebeproben entdecken oder eine veränderte Organtextur im Kernspin. "Teilfähigkeiten des Menschen lassen sich maschinell prima ersetzen", sagt Computerwissenschaftler Buhmann. "Aber wenn den Maschinen nicht rückgemeldet wird, was richtig und was falsch ist, können sie sich auch nicht korrigieren und nächstes Mal besser erkennen, dass eine harmlose Gewebeveränderung kein Tumor ist."

Für Patienten bringen mehr Daten häufig nur überflüssige Untersuchungen mit sich

Dass mehr Daten nicht automatisch mit mehr Informationen und erst recht nicht mit mehr Erkenntnissen einhergehen, erleben Menschen beim Arzt immer wieder. Schwangeren wird zum "Baby-Fernsehen" neben dem üblichen auch 3-D-Ultraschall angeboten. Die Bilder sind plastischer (manche sagen: hässlicher) und beruhen auf größeren Datenmengen. Zusätzliche diagnostische Details oder andere Informationen sind dadurch aber nachweislich nicht zu entdecken.

Noch ungünstiger für Patienten wirkt sich die genauere Auflösung moderner Kernspin- und CT-Bilder aus. So werden oft kleine Abweichungen und Zufallsbefunde entdeckt, die keine krankhafte Bedeutung haben, Ärzte jedoch irritieren und Patienten Angst machen. Dann werden Kontrolluntersuchungen oder invasive Diagnostik, wie bei der 48-Jährigen mit unklarem Leberbefund, angeordnet, die unnötig sind und schaden können. Die Folge der technisch aufgerüsteten Absicherungsmedizin ist - Verunsicherung. Neurologen scherzen längst über die Diagnose UBO. Das sind "unidentified bright objects", unklare Aufhellungen in Kernspin oder CT ohne Krankheitswert. Für Patienten bringen die zusätzlichen Daten keine Vorteile, sondern überflüssige Untersuchungen mit sich.

2 Terabyte

Daten pro Patient verarbeiteten Onkologen des Deutschen Krebsforschungszentrums bereits im Jahr 2015. Das entspricht dem Speicherplatz zweier handelsüblicher Festplatten Für ihre Analysen vergleichen sie das Krebsgenom mit dem Erbgut von gesunden Zellen. So wollen sie unter anderem die biologischen Prozesse bei der Entstehung von Tumoren besser verstehen.

Die Beispiele sind nicht nur von anekdotischem Interesse, sondern illustrieren den Gegensatz der Weltbilder, wenn es um medizinischen Fortschritt geht. Techniker und Entwickler medizinischer Geräte begeistern sich für höhere Auflösung und genauere Analysemethoden und müssen dann feststellen, dass die Fortschritte zum Schaden der Patienten sein können. IT-Experten freuen sich, wenn immer mehr Daten in immer kürzerer Zeit "verarbeitet" werden und drohen zu verkennen, dass mehr und schnellere Technik nicht automatisch mehr brauchbarem Inhalt bringt.

Doch auch der Deutsche Ethikrat sieht in seiner Stellungnahme vom November 2017 die Chancen durch Big Data und ist überzeugt, dass "mit der Menge der Daten auch die Aussagekraft der Analyse" steigt. "Mehr Daten bedeuten nicht automatisch mehr Information, aber vorhandene Information nicht zu berücksichtigen, ist auch nicht verantwortlich", sagt Peter Dabrock, Vorsitzender des Ethikrates. "Wenn durch Big Data in der Medizin Diagnose und Therapie präziser werden, die Standards der evidenzbasierten Medizin gehalten und sprechende Medizin nicht vernachlässigt wird, ist diese Entwicklung grundsätzlich als verantwortlich zu begrüßen."

Algorithmen dürfen nicht entscheiden, ob ein Patient nur noch palliativ behandelt wird

Genau das kann bezweifelt werden, wie etliche Beispiele zeigen. Hört die Politik auf falsche Einflüsterer aus der IT-Branche? Welche Daten im Wechselspiel zwischen Unis, Kliniken und Firmen kommerzialisiert werden und welche geschützt, ist nicht ansatzweise geregelt. Trotzdem findet sich auf der Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Stichwort "Digitalisierung in der Medizin" die Behauptung, "Patienten und Ärzte könnten entscheidend profitieren, wenn alle relevanten Gesundheitsdaten der Patienten, alle für eine Krankheit verfügbaren Forschungsdaten und -ergebnise sowie das dazugehörige medizinische Fach- und Erfahrungswissen intelligent verknüpft zur Verfügung stünden."

Wichtig sind die Details: "Intelligent verknüpft" und "alle" Daten - selbst gut gemeinte Erfassungen bergen jedoch die Gefahr großer Schieflagen, wie sich jüngst in Boston zeigte, als eine Schlagloch-App auf dem Smartphone registrieren sollte, wenn das Auto durch Dellen fuhr und die Daten ans Bauamt übermittelt wurden. Auffällig viele Schlaglöcher fanden sich in gentrifizierten Stadtteilen - wo genügend junge Leute wohnten, die Smartphones besaßen und die App installieren konnten.

Big Data führt manchmal gar zu gespenstischen Szenarien. Stanford-Informatiker haben kürzlich selbstlernende Algorithmen entscheiden lassen, ob Todkranke eine Palliativ-Behandlung bekommen oder noch versucht wird, sie zu heilen. Lebenswichtige Entscheidungen traf der Computer. Abgesehen von der ethischen Fragwürdigkeit zweifelten Methodiker die Richtigkeit der Vorhersagekriterien an. Der Lernprozess der Maschinen war so grob, dass die Informationen über die Schwere der Krankheit keine zuverlässigen Prognosen erlaubten. "Ob ein Mensch noch mit dem Ziel Heilung behandelt wird oder palliativ, darf nicht von Algorithmen und Informatikern entschieden werden", sagt Gerd Antes. Sein Fazit fällt verheerend aus. "Big Data ist eine grobe Täuschung der Öffentlichkeit - unter kräftiger Mithilfe der Getäuschten. Jeder macht mit, sorgt sich nicht, was mit seinen Daten passiert und glaubt daran, dass große Datenmengen die wesentlichen Probleme der Zukunft schon lösen werden."

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